Textmaker Helmuth Santler

Der Textmaker – und die Botschaft kommt an

Erstling, erstklassig, erlesenswert

Thomas Wollinger: Die ArchäologinDie Archäologin: Eine Frau gräbt nach ihrer Vergangenheit

Erika kehrt als frisch gebackene Archäologin in ihr Heimatdorf zurück: Kirchwald, Marchfeld, in nächster Nähe zur tschechoslowakischen Grenze. Eine Ahnung drängt sie dazu, an ihrem geheimen Platz aus Kindertagen zu graben, und sie entdeckt die 3.000 Jahre alten Spuren einer Familientragödie. Viel später wird sie einmal sagen: „Es war, als hätte ich mich selber ausgegraben.“
Erika ist besessen von ihrer Arbeit, doch in Wahrheit auf der Suche nach Heilung einer Wunde, die tief in der Vergangenheit geschlagen worden ist. Doch alles im Leben wiederholt sich… im Guten – wie im Schlechten?
Thomas Wollinger liefert einen faszinierenden Erstlingsroman ab: In zutiefst österreichischer Färbung von Land und Leuten und natürlich Sprache gelingt es ihm, ganz nah an den Kern der Dinge heranzukommen. Völlige Distanzlosigkeit zum Geschehen erreichen seine Schilderungen, sodass er, den Leser im sicheren Griff wissend, mit unseren Emotionen zu spielen vermag wie ein abgebrühter Bestsellerautor. Die Parforcejagd durch die Zeit fördert, Schicht um Schicht, Bruchstücke der allzu gerne begrabenen Geschichte zu Tage. Und Erikas persönliche Historie ist mit allem untrennbar verwoben – ihre Jagd nach der Vergangenheit wird zur Jagd nach ihr selbst, nach Erlösung aus einer früheren Existenz. (Helmuth Santler)

Österreichisch im besten Sinn

Thomas Wollingers Roman weckt, und das sei an den Anfang gestellt, den dringenden Wunsch, weitere Bücher des Autors zu lesen, und dies möglichst bald.*
Mit der Archäologin ist Wollinger ein überaus österreichisches Buch (im besten Sinn!) gelungen, das nicht nur spannend und fesselnd, wunderbar leicht und kunstvoll erzählt ist (der Autor verbindet verschiedene Stufen der Vergangenheit virtuos mit der Gegenwart), sondern auch eine faszinierende Protagonistin aufweist. Darüber hinaus rührt der Roman an einige heikle Themen, die man hierzulande gern unter den Tisch kehrt. Subtil wird die nur scheinbar heile Welt des Dorflebens entromantisiert und in seiner oft unerträglichen Enge und Tristesse dargestellt, denen Erika durch ihr Studium in Wien zu entfliehen versucht („Es ist so eng. man kann hier nicht atmen. Das Leben im Zyklus katholischer Sakramente. Taufe, Erstkommunion, Firmung. Heirat. Taufe, noch eine Taufe, und vielleicht noch drei Taufen, bis man nicht mehr kann. Dann Begräbnisse der Nachbarn. Dann das eigene. Und dazwischen: arbeiten auf dem Feld, im Dreck, bei Hitze und im Winter.“ S.152). Des weiteren zeichnet Wollinger ein deutliches Bild vom sich immer weiter verschlechternden Zustand der universitären Forschung in Österreich: Erika arbeitet teilweise gratis, immer bis zum Umfallen, letztendlich muss sie sich so weit erniedrigen, einen alten Anhänger der nationalsozialistischen Rassenlehre um Hilfe bei ihrer Grabung in ihrem Heimatort Kirchberg zu bitten, da sie alle anderen (männlichen) Kollegen im Stich lassen. Auch die Magersucht der fähigen Wissenschaftlerin ist wohl als überdeutliche Metapher für die Aushungerung des Forschungsbetriebes zu verstehen.
Den philosophischen Hintergrund für den Roman liefert das Denkkonzept, dass sich alles in der Geschichte der Menschen wiederholt, was einerseits bedeutet, dass auch das Böse, Grausame wiederkehrt, andererseits aber die Chance zur Auflösung bzw. Erlösung und Weiterentwicklung für jeden Einzelnen gegeben ist – so auch für die Archäologin Erika, die letztendlich die Chance ergreift, den Weg zu sich selbst und damit die Heilung ihrer Seele zu finden. (Gabriele Heidegger)

Thomas Wollinger: Die Archäologin. btb 2004. Tb., 287 S.
* Leider blieb dieser Wunsch bis dato (2014) unerfüllt.

Autor: Helmuth Santler

28. Mai 2004 um 10:00

Einen Kommentar schreiben: