Textmaker Helmuth Santler

Der Textmaker – und die Botschaft kommt an

Der Alltag wird Geschichte

altarriba_kunst zu fliegenVom Wunsch zu leben zur Angst vor dem Sterben: spanische Zeitgeschichte als erschütterndes Biografiedrama.

„Und ich kann euch versichern, dass – obwohl es nur wenige Sekunden zu dauern schien – mein Vater für den Sturz aus dem vierten Stock 90 Jahre brauchte.“
Antonio Altarriba ist zuletzt doch geflogen: am 4. Mai 2001, mit 90. Sein gleichnamiger Sohn, der baskische Schriftsteller, wird zu ihm, ist immer er gewesen, und erzählt die einzigartige Geschichte von vielen: das Ende der Diktatur Primo de Riveras, die Zweite Spanische Republik, der Bürgerkrieg, das Franco-Regime, die neue Monarchie, Transition … heute.
Antonios erste Lektion: Die Gier, allgegenwärtig, führt zu Isolation. Weil alle Bauern einander die Felder Schar für Schar streitig machen, werden Mauern hochgezogen, sodass jeder mit seiner Missgunst für sich bleiben kann.
Die zweite Lektion: Die ersehnte Freiheit gibt es nicht geschenkt – und nicht zu kaufen.
Die dritte Lektion: Träume können erstritten werden – in Einigkeit. Doch nichts ist von Dauer außer der ersten Lektion.

Die blinde Linke und die wahre Gefahr

Im Spanischen Bürgerkrieg bekämpft sich die gespaltene Linke selbst, blind und ohnmächtig der wahren Gefahr gegenüber. Die Flügel werden gebrochen und so zusammengesetzt, dass der heile Schein gewahrt bleibt. An Fliegen ist nicht mehr zu denken.
Der Wunsch zu leben weicht der Angst zu sterben. Arrangieren, mitmarschieren, resignieren – Antonio gibt sich auf, fügt sich ein, erliegt selbst der Gier, zahlt den Preis. „Nicht mehr“ bestimmt sein glückloses Dasein im Altenheim. Ein Maulwurf frisst Schwärze in seine Brust. Bis er seinen Sohn anfleht: „Töte mich!“
Das, endlich, befreit: Entsetzt über sich selbst bringt er ein letztes Mal die Kraft auf, zu seinem Traum, zu sich, zurückzukehren. Und fliegt …
Leidenschaftlich, tragisch, voller Liebe und nicht ohne Humor ist Altarribas biografisches Drama. Der spanische Zeichner Kim hat den Worten ihr – an wenigen Stellen allzu grobes – Gesicht verliehen und, wie es dem Verantwortlichen für „Bühnenbild, Kostüme, Casting und Kamera“ ansteht, ihre Bedeutung dabei potenziert. Erschütternd und groß.

Antonio Altarriba, Kim, „Die Kunst zu fliegen“. € 24,95, 208 S., 29,5 × 22,7 cm, avant-verlag, Berlin 2012

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