Textmaker Helmuth Santler

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Cornelia Funke: Weltreise in sechs Spiegelbildern

funke_spiegelweltDie Spiegelwelt-Reihe führt in Teil drei zu Baba Jagas, Kosaken und Bären in Uniform. Bis es weitergeht, erfreut uns Spiegelwelt, ein „Kompendium des Staunens und des Grauens“.

„Der Spiegel öffnet sich nur dem, der sich selbst nicht sieht.“

Kaum einer beherrscht diese zweifelhafte Kunst besser als der grimmige Jacob Reckless. Und macht einen Beruf daraus, alles andere als sich selbst zu sehen: Jacob ist einer der besten Schatzjäger der Spiegelwelt. Einer, dessen Selbstblindheit ihn im Ausgleich mit der Fähigkeit beschenkt, alles andere umso besser zu sehen – und zu finden. Ausgestattet mit Täuschbeutel, einem Rapunzelhaar, unsichtbar machendem Schneckenschleim und einem Taschentuch, das ihn jederzeit mit Goldtalern versorgt, ist er im Dienste der Reichen und Mächtigen der Spiegelwelt unterwegs, um ihre magischen Sammlungen zu bereichern und geheimsten Wünsche zu erfüllen.

Immer an seiner Seite: Fuchs. Die Füchsin ist – ungern – ein Mädchen; es besitzt ein Fellkleid und trägt es so oft wie möglich, verwandelt sich mithilfe des magischen Kleidungsstücks in ihre bevorzugte Gestalt. Als Fuchs ist sie schnell und schlau und vor allem: Sie sieht, erkennt, weiß. Sie gehört sich selbst und genügt sich selbst. Als Mädchen fühlt sie sich schwach und schutzbedürftig und ist auf die Hilfe anderer angewiesen.

funke_reckless3All das ist lange her. Die dritte Reise in die Funke-sprühende Welt hinter dem Spiegel, Reckless. Das Goldene Garn, zeigt uns Jacob, wie immer auf der Flucht vor sich selbst, getarnt als Jagd – wieder ist es sein kleiner Bruder Will, der in Schwierigkeiten steckt und gerettet werden muss … Doch dieses Mal muss sich Jacob einer Wahrheit stellen, der offensichtlichsten und schmerzlichsten von allen, und sie hat mit der Füchsin zu tun. Die nun viel öfter als Mademoiselle Celeste Auger begehrliche Männerblicke weckt als ihr glänzendes Fellkleid zu tragen, das ihr die Jahre raubt. Und dies auch mehr und mehr zu schätzen lernt: Es küsst sich so viel besser mit einem Frauenmund.

Der Weg führt diesmal nach Osten, ins goldene Moskva, in die endlosen Steppen von Kazakh, wo von der Mechanisierung des Westens noch nichts zu bemerken ist und die Magie noch stark und lebendig. Und von dort aus immer weiter nach Osten, nach Nihon und auf die andere Seite des Ozeans, Alaskeya … doch das ist Zukunftsmusik, die erst noch geschrieben werden muss. Sechs Bände soll die Reckless-Reihe letztlich umfassen, eine Weltreise auf den Spuren der Mythen und Märchen dieser Welt.

Kompendium des Staunens und des Grauens

Inmitten der langen Wartezeit bis zum vierten Band lässt indes ein Fund aufhorchen: Spiegelwelt. Eine lose Sammlung von Geschichten – wie Jacob die Füchsin aus dem Eisen befreite, wie sein einstiger Schatzjagd-Lehrmeister seinen rechten Arm verlor. In dem Kästchen finden sich ein Herbarium der gefährlichsten Pflanzen samt botanisch korrekten Darstellungen, eine illustrierte Typologie sämtlicher Menschenfresser-Arten, ausgewählte Rezepte für die Zubereitung der Lieblingsspeise der Kinderfresserinnen, der historisch akkurate Bericht, wie der Menschenhaut-Schneider zu seinem blutigen Handwerk kam … und Einladungen, Flugzettel, Briefe, Telegramme, Urkunden; Mosaiksteinchen, die unserem Spiegelweltbild etliche weiße Flecken nehmen. „Ein Kompendium des Staunens und des Grauens zugleich“, verspricht und warnt uns der Entdecker des Schatzkästchens, der unter dem Namen Dressler-Verlag auftritt und behauptet, es handle sich um „die Erzählungen aus der preisgekrönten MirrorWorld-App … ausgezeichnet mit dem ,Silbernen Löwen‘ in Cannes“.

Dem mag so sein (auch wenn die Kassette mit Golddruck veredelt ist und weit und breit kein Löwe zu sehen). Aber woher auch immer die Aufzeichnungen tatsächlich kommen mögen: Entscheidend ist, dass ihnen jemand ihr papierenes Fleisch gab. Sonst wären sie wohl auf ewig hinter dem Spiegel verborgen geblieben.

Cornelia Funke, „Reckless. Das Goldene Garn“. € 20,60 / 464 Seiten. Dressler-Verlag, Hamburg 2015

Cornelia Funke, „Spiegelwelt“. € 40,10 / 224 Seiten. Dressler-Verlag, Hamburg 2015

Erschienen im Standard, 2. 4. 2016

Autor: Helmuth Santler

26. Apr 2016 um 09:55

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