Textmaker Helmuth Santler

Der Textmaker – und die Botschaft kommt an

Die Wahrheit der schwarzen Schwingen

Ergreifende Geschichte einer undenkbaren Liebe inmitten von Gewalt, Terror und Tod: ein Augen öffnender Frontalangriff auf unsere Normalität gewordene Ignoranz.

Nura, eine 17-jährige Syrerin, hat Entsetzliches hinter sich. Folter, Mord, Tod, Angst und Ohnmacht und Verlust, Schmerz der Seele. Des Körpers. Des Geistes. Zuletzt blieben ihr das Überleben, ihre Eltern, ein Bruder – in einem Flüchtlingsheim in Deutschland.

Calvin hasst diese Brut, wie alle seine Neonazi-Freunde. Die „kriminellen Ausländer, Asylbetrüger, Sozialhilfegauner, vagabundierenden Zigeuner-Diebesbanden, tickenden Islamisten-Zeitbomben und anderen importierten Sicherheitsrisiken“ (aus einer Rede eines NPD-Abgeordneten, 2010) müssen als Sündenböcke für das eigene Versagen, die eigene Perspektivenlosigkeit herhalten. Grundstimmung: dreinschlagen, kaputtschlagen, in die Fresse treten.

Nichts ist Undenkbarer als eine Begegnung zwischen diesen beiden jungen Menschen, zwischen denen Weltenabgründe klaffen. Doch eigentlich wohnen sie im selben Viertel, und als es doch passiert, löst Calvin bei Nuri etwas aus, und sie beginnt zu erzählen. Und Calvin will das nicht, doch etwas an Nuri lässt ihn hinhören. Lässt ihn nicht mehr los.

Nuri lässt Calvin ihr Schicksal nacherleben, und je tiefer er in diese neue, fremdartige Welt eintaucht, desto mehr stellt er seine bisherigen Überzeugungen in Frage. Nuri braucht ihn als Zuhörer, um sich in die Gegenwart zu reden, um sich der Wahrheit der schwarzen Schwingen stellen zu können: dass sie in uns allen sind.

Für Calvins Nazikumpel ist diese erwachende Liebe „Rassenschande“. Calvin wird zum Verräter, zum Ausgestoßenen. Der mörderische Plan der braunen Fanatiker soll dennoch in die Tat umgesetzt werden, jetzt erst recht: Das Flüchtlingsheim soll brennen.

Die Welt mit neuen Augen sehen

„Wer dieses Buch liest, wird die Welt mit neuen Augen sehen!“, lehnt sich der Verlag auf dem (transparenten) Schutzumschlag maximal weit aus dem Fenster. Und verspricht kein Wort zu viel: Peer Martins 2016 mit dem deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichneter Roman hat alles, was sich von einem Buch erhoffen lässt. Mit Nuris Erzählungen werden wir gezwungen hinzusehen, uns das Grauen des Kriegs in Syrien zu vergegenwärtigen; die Geschehnisse in der rechten Szene sind ekelerregend bis zum Würgreflex, gerade weil sie so authentisch sind. Schonungslos und offen wird dargestellt, jegliche Wertung liegt im Auge des Betrachters des ungeschminkten, „verstörend ehrlichen Porträts unserer Gesellschaft“ (Klappentext).

Es gibt wenig Antworten, schon gar keine Lösungen in diesem Meisterwerk, dessen einschränkende Schubladisierung „Jugendbuch“ niemanden ab 16 davon abhalten sollte, sich seinem emotionalen Zugriff auszusetzen. Sommer unter schwarzen Flügeln ist vieles: zwei Jahre nach Erscheinen noch immer furchtbar aktuell, erschütternd, ergreifend, unbequem, poetisch, einfühlsam, ein Frontalangriff auf unsere Komfortzone, ein spannender, dramatischer, herausragend gut geschriebener Text … und ja, ein Buch für junge Menschen: „Menschen, die vielleicht lernen können, Gewalt und Hass zu begreifen und zu einer Generation heranzuwachsen, die sie nicht mehr zulässt“ (Peer Martin in der Danksagung). In diesem Sinne: „May we stay forever young“.

Peer Martin, „Sommer unter schwarzen Flügeln“. € 20,60 / 528 S. Oetinger-Verlag, Hamburg 2015

Kurzkritik im Standard, 30.12.2017

Autor: Helmuth Santler

05. Jan 2018 um 16:03

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