Textmaker Helmuth Santler

Der Textmaker – und die Botschaft kommt an

Kleiner Vogel frei

Alice Littlebird vom Volk der Cree wird mit sieben Jahren gezwungen, eine Residential School aufzusuchen. Obwohl es eigentlich verboten ist, gelingt es Alice alias „Nr. 47“ in dem Schulgefängnis, mit ihrem Bruder Kontakt aufzunehmen. Dessen Plan steht seit langem fest: Flucht. Doch wie sollen sich zwei Kinder gegen ein System der Unterdrückung behaupten?

Die spannend und altersgerecht geschriebene Story ist ziemlich harter Stoff für Ab-Elfjährige – besonders wenn die Autorin im Nachwort erklärt, dass Alice’ Geschichte zwar frei erfunden ist, das grausame Umfeld der Residential Schools jedoch den historischen Tatsachen entspricht.

Alice Littlebird spielt in Kanada. Noch bis 1996(!) gab es dort die als Schulen getarnten Umerziehungs-Gefängnisse, deren Besuch ab 1920 für alle jugendlichen „Wilden“ verpflichtend war – um den aus ihren Familien gerissenen und von ihren Geschwistern isolierten Kindern die eigene Kultur und Sprache heraus- und eine absurde Perversion von Christentum hineinzuprügeln. Verdorbenes Essen, sexueller Missbrauch, verbale Demütigung und Folter (wie das Essen von Seife, wenn man beim Verwenden der eigenen Sprache erwischt wurde) bestimmten den auf Generationen traumatisierenden Alltag.

Derlei Boarding Schools gab es auch in den USA und Australien, wie es überhaupt keine Ausnahmen in der europäischen (Kolonial-)Geschichte gibt: ob Spanier, Deutsche, Belgier oder Franzosen, alle haben sich des (kulturellen wie physischen) Massenmords schuldig gemacht. Unterschiedlich ist hauptsächlich, wie gegenwärtig uns diese Schandtaten sind. Gerade Kanada gilt als cool, fortschrittlich, liberal, und es mag wohl sein, dass es den Uransässigen – First Nations genannt – dort heute in puncto Anerkennung und Rechtsstatus etwas besser geht als den Native Americans in den USA. Das ist begrüßenswert. Am zugrundeliegenden Unrecht ändert es jedoch nichts, und auch nichts daran, dass viel zu wenig zur Wiedergutmachung unternommen wird.

Grit Poppe, „Alice Littlebird“. € 15,50 / 240 S. Peter-Hammer-Verlag, Wuppertal 2020

Im Standard, 30.5.2020

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