Textmaker Helmuth Santler

Der Textmaker – und die Botschaft kommt an

Gott brach die Welt in Stücke …

Christelle Dabos fügte sie wieder zusammen: Ihre vierteilige Spiegelreisen-Saga ist hochklassige All-age-Unterhaltung und überbordender Kommentar zum Weltgeschehen – ein Instant-Klassiker der fantastischen Literatur.

Und eines Tages, als Er äußerst verstimmt war, beging Er eine ungeheure Torheit.
Gott brach die Welt in Stücke.“

Das Stück, Arche genannt, auf dem die Ereignisse um die Spiegelreisende, Ophelia, ihren Anfang nehmen, trägt den Namen Anima. Hier führen die Dinge ein Eigenleben – Kutschen bewegen sich ohne Pferde, zerbrochene Gläser heilen in ein paar Tagen, Gebäude knarzen protestierend, wenn ihnen etwas missfällt. Der Geist in den Maschinen ist quicklebendig auf Anima. Wie so vieles in diesem gefeierten Stück fantastischer Literatur könnte man es auch als ironischen Kommentar auf die Zustände außerhalb dieser Buchwelt verstehen, in unserer sogenannten „Wirklichkeit“. Ist hier doch nicht selten das Gegenteil der Fall: Beseelte Wesen werden wie Gegenstände behandelt, vom Model als beweglichem Kleiderständer bis zu den „Biorobotern“, den Männern, die in Tschernobyl die Arbeit von Maschinen erledigten, weil diese der Radioaktivität nicht gewachsen waren. Human Resources sind das Kanonenfutter in Friedenszeiten.

Das Lesen von Dingen

Die lebendigen Dinge auf Anima haben ein Gedächtnis. Ophelia, dünn, zarthäutig, klein gewachsen und stets hinter einer dicken Brille und einem enormen, dreifärbigen Schal verborgen, kann als eine der Wenigen darauf zugreifen. Sie ist eine begabte Leserin, sie kann durch Berührung die Geschichte der Besitzer der Objekte ans Licht bringen. Passenderweise führt sie ein beschauliches Leben als Leiterin eines Museums für Frühgeschichte – sprich die Geschichte vor Gottes „ungeheurer Torheit“ (seit der im Übrigen Religionen zu amüsanter bis befremdlicher Folklore verkümmert sind).

Ophelias friedvolles Dasein findet ein jähes Ende, als sie mit einem völlig Unbekannten zwangsverlobt wird. Sie ist zur Übersiedlung auf die Arche Pol gezwungen, wo ihr Zukünftiger die ebenso wichtige wie allseits verhasste Position des obersten Finanzbeamten einnimmt. Thorn macht es indes den Menschen ausgesprochen einfach, ihn als Feind zu sehen, ist er doch mürrisch, rüpelhaft, autoritär und bar jeder Emotion oder Empfindungsfähigkeit.

Machtgier, Intrigen, Gewalt und Tod

Auf Pol herrscht auch sonst glassplitternde Eiseskälte in jeglicher Hinsicht. Die Angehörigen verschiedener Clans mit unterschiedlichen besonderen Eigenschaften von Gedankenmanipulation bis zum gedankengesteuerten, sehr real blutigen Aufschlitzen ringen in einem nicht enden wollenden Strudel aus Machtgier, Intrigen, Gewalt und Tod um die Vorherrschaft – Vertrauen und Wahrheit sind die wertvollsten, weil so gut wie nicht vorhandenen Güter. Der Tanz um das Goldene Kalb wird nicht zuletzt auf dem Rücken der Dienerschaft ausgetragen, gleichsam „dehumanized resources“: In Frau Dabos’ Buchwelt wird die neoliberale Wirklichkeit von allem beschönigendem Gepränge entblößt und die „menschlichen Rohstoffe“ als das gezeigt, was sie sind: jederzeit austauschbare Betriebsmittel. „Du wirst den Winter nicht überleben“, hatte Thorn Ophelia prophezeit. Und je mehr die junge Frau über ihre neue Welt zu begreifen meint, desto wahrhaftiger scheint diese Vorhersage zu werden.

„Lack über dem Schmutz“: So wird Pol treffend charakterisiert. So gut wie alles ist Illusion, glänzender Schein, der magisch die unbarmherzige, trostlose Wirklichkeit verbirgt. Wir stehen am Abgrund, was also ist zu tun? Natürlich: wegsehen. Leugnen. Weiterlügen. Vergleiche mit dem Verhalten gegenüber Global Warming und dem Dutzend anderer existenzbedrohender erdumspannender Krisen drängen sich auf. Und Wahrheit, was soll das überhaupt sein? Wahr ist, was gesagt wird, wahr ist, was geglaubt wird.

Sprachlich herausragend und voller Bildkraft

Doch zurück zum Text. Der ist sprachlich herausragend (aus dem Französischen übersetzt von Amelie Thoma) und in puncto Bildkraft mit modernen Klassikern der All-age-Literatur wie der Tinten-Trilogie von Cornelia Funke auf Augenhöhe. Die Nominierung des ersten Bandes der Tetralogie, Die Verlobten des Winters, für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2020 erscheint als nachgerade logische Wahl. Der Weltentwurf von Christelle Dabos, deren eigenes Universum nach einer Krebsdiagnose 2007, dem Jahr, in dem sie mit den Arbeiten an ihrem Epos begann, wohl ebenfalls in Stücke zerschlagen wurde, ist wundersam und schrecklich und einzigartig („frei von Vorbildern“; aus der Jurybegründung). Als Leser versinkt man darin und kann sich an den ab und an schmunzeligen, oft schaurigen und stets faszinierenden Geschehnissen nicht sattlesen, egal ob man diese als ausschließlich hochklassige Unterhaltung oder auch überbordend fantastischen Kommentar zum Weltgeschehen in sich verwirklicht.

Dabos hält durchgehend ihr hohes Niveau, sprachlich wie erzählerisch und auch in Bezug auf die komplexe Darstellung einer Buchwirklichkeit, in der „jedes Wort, jede Betonung, jede Geste“ von Bedeutung ist. Die Reise in ihr Universum verlangt nach einer gewissen Leseerfahrung, um ihre ganze prachtvolle Wirkung entfalten zu können – dafür tut sie dies unterschiedslos für Menschen von 14 bis 114. Die Welt ist um 2000 Seiten reicher geworden – die ab sofort auch in deutscher Sprache vollständig vorliegen.

Christelle Dabos, „Die Spiegelreisende 1 – Die Verlobten des Winters“. (Originaltitel „Les Fiancés de l’hiver. La Passe-miroir 1“) € 18,50 / 535 S. Insel-Verlag, Berlin, März 2019

Christelle Dabos, „Die Spiegelreisende 2 – Die Verschwundenen vom Mondscheinpalast“. (Originaltitel „Les Disparus du Clairdelune. La Passe-miroir 2“) € 18,50 / 613 S. Insel-Verlag, Berlin, Juli 2019

Christelle Dabos, „Die Spiegelreisende 3 – Das Gedächtnis von Babel“. (Originaltitel „La mémoire de Babel. La Passe-miroir 3“) € 18,50 / 520 S. Insel-Verlag, Berlin, November 2019

Christelle Dabos, „Die Spiegelreisende 4 – Im Sturm der Echos“. (Originaltitel „La Tempéte des Echos. La Passe-miroir 4“) € 18,50 / 560 S. Insel-Verlag, Berlin, Juni 2020

Am 27. 6. 2020 im Standard:

Autor: Helmuth Santler

30. Jun 2020 um 15:44

Einen Kommentar schreiben: