Textmaker Helmuth Santler

Der Textmaker – und die Botschaft kommt an

Wirklich ist, was wir für wirklich halten

61iBP6kiCmL51bPnrufnVLEdward Cohen erlebt eine turbulente Kindheit, geprägt von der großen zweiten Liebe seiner Mutter, einem Hallodri und Elvis-Verschnitt, der dem Jungen mit acht das Rauchen beibringt. Einen anständigen Beruf erlernt er nicht, verlottert sein Studentenleben und fällt schließlich doch auf die Butterseite, indem er eine schräge Idee in einen Kult-Verkaufsschlager ummünzt. Doch dann holt ihn die Vergangenheit eines anderen ein: Adam, der Bruder seines Großvaters, dem Vernehmen nach ein Dieb und Taugenichts und jedenfalls das schwarze Schaf der Familie. Edward sieht diesem Unbekannten verblüffend ähnlich, was ihm das Leben in der Familie nie erleichtert hat. Nach dem Tod der sittenstrengen Großmutter fällt ihm ein Manuskript in die Hände, von eben diesem Adam, gerichtet an jemanden namens Anna Guzlowski.
Adam Cohen, erfahren wir, war wohl ein Taugenichts, der nie einen richtigen Beruf erlernt hat, aber sicher kein schlechter Kerl; überhaupt gibt es viel mehr Parallelen zwischen Edward und ihm als die äußerliche Ähnlichkeit. Vor allem da auch Adam ein Träumer war, der für die Liebe lebte, weil sie ihm als die eine Oase der Sinnhaftigkeit in einer Welt erschien, die täglich ein Stück mehr dem Wahnsinn anheimfiel: das Berlin der 30er-Jahre und die darauf folgenden Gräuel des Zweiten Weltkriegs.
Nicht dass Adam sich gefürchtet hätte: Der mit Abstand wichtigste Mensch seiner Kindheit ist die exzentrische Großmutter Edda Klingmann, die von Hitler grundsätzlich nur als dem „August“ spricht, eine Fotowand mit den führenden Köpfen des NS-Regimes anlegt, um damit Adam in die Kunst des Gesichtslesens einzuführen, und bis tief in den Krieg hinein eine Freundschaft zu einem Sturmbannführer pflegt. Sie bringt Adam alles bei, was man aus ihrer Sicht zum Leben braucht. Furcht ist kein Teil davon, weshalb Adam, als seine angebetete Anna in der Reichskristallnacht spurlos verschwindet, auf einen wahnwitzigen Plan verfällt, um die große Liebe seines Lebens zu retten.

Astrid Rosenfeld legt mit ihrem Debütroman eine berührende, heitere und von der Liebe als Wert für sich durchdrungene Erzählung vor. Egal ob im Berliner Zoo oder im Warschauer Ghetto: keine Gelegenheit wird ausgelassen, leichtfüßig tänzelnd über der Schwere und Plumpheit, dem Grauen und der Verzweiflung der Realität zu schweben. Ja, es gibt Momente, vor allem natürlich in Adams Leben, in denen alles zu viel wird, in denen die Träumer hart auf der Erde landen und die gnadenlose Kälte der Wirklichkeit durch die zerrissene Kleidung, die löchrigen Schuhe dringt. Doch was bleibt den Menschen, wenn ihnen alles genommen wird? Wenn selbst die Hoffnung nicht mehr atmen kann? Man nimmt sein Schicksal an. Trägt es mit einem Rest von Würde. Und unternimmt alles, um es vor dem Vergessen zu bewahren.
„Adams Erbe“ bewahrt eine Erinnerung vor dem Vergessen, die der Roman selbst erschafft. Erinnerungen sind wie Träume: real und irreal zugleich, untrennbar miteinander verwoben. Wirklich ist, was wir für wirklich halten. „Adams Erbe“ ist ein sehr lesenswertes Buch. Wirklich.

Astrid Rosenfeld: Adams Erbe. Diogenes, Zürich 2011. Geb., 384 S., € 22,90
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Astrid Rosenfeld: Adams Erbe. Diogenes, Zürich 2012.Tb., 400 S., € 10,–
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Autor: Helmuth Santler

02. Okt 2012 um 12:11

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