Textmaker Helmuth Santler

Der Textmaker – und die Botschaft kommt an

Ein schmerzhafter Spiegel

51KCJ4LHZcL51HpfZMD7kL._SL160_Pagford: Kirche, Schule, Delikatessenladen, viktorianische Häuser, gepflegte Vorgärten, friedliches Einvernehmen. Unter der nippeslastigen Fassade brodelt es aber, freilich zitronenmundig und im Verborgenen. Im Land wo die Neurosen blühen ist Offenheit verpönt, den Schein zu wahren die gültige Währung; möglichst viele Stiche unerkannt ins Kreuz der detailversessen gepflegten Lieblingsfeinde zu versenken erscheint als die einzige Möglichkeit, das Spiel zu gewinnen. Das Spiel, das ist das Leben im Zentrum des Universums: Pagford.

Es ist nicht leicht, dieses Buch zu mögen: Kaum eine Figur eignet sich als Sympathieträger, alle sind irgendwie deformiert (die Alten), befinden sich auf direktem Irrweg dorthin (die Jungen) oder geraten unschuldig zwischen die Mühlsteine aus Generationen, Konventionen und Illusionen (die Kinder). Was auch schon alles über die Zukunftsperspektiven sagt, mit denen Rowlings radikale Abkehr von Harry Potter die Leser letztlich entlässt: Erstarrung mit Fortsetzung.

Abkehr von der eigenen Fiktion

Pottermaniacs seien dringendst gewarnt: Natürlich hat die Autorin der erfolgreichsten Buchreihe der Geschichte etwas ganz anderes gemacht; die meisten sehr negativen Kritiken beziehen ihren Groll aus der naiven und konsequent enttäuschten Annahme, hier ihrem Zaubereridol wiederzubegegnen – in irgendeiner Form. Am besten würde man dieses Werk lesen, ohne die Autorin zu kennen. Dann fände man sich auch nicht in ihrem anfänglich ab und an etwas gezwungen wirkenden Kampf um Abgrenzung von ihrer selbst erschaffenen magischen Fiktion wieder.

Unbarmherzig sucht Rowling der Reihe nach die Pagforder in ihren Wohn- und Schlafzimmern auf, darunter die Spitzen der Gesellschaft und die Säulen der Gemeinschaft, aber auch der menschliche Ausschuss, Junkies, gewaltbereite Väter, Vergewaltiger, seziert ihre Gedanken und Motivationen, konterkariert Sein und Schein; das ist befremdlich, skurril, Mitgefühl erweckend, Zorn schürend, zynisch witzig – und mit Sicherheit furchtbar schmerzhaft für alle (Konservativen), die sich in der einen oder anderen kleingeistigen Kleinbürger-Szene ertappt fühlen. Einigermaßen fordernd für den Leser ist es, in die bei aller realen Enge fiktional komplexe Pagforder Community so weit einzutauchen, dass den Geschehnissen mit der für ein Leseerlebnis nötigen emotionalen Anteilnahme gefolgt werden kann. Ist das jedoch erst einmal geschehen, taucht man in einen brillant beschriebenen, plastischen Mikrokosmos ein, bevölkert von sich selbst überschätzenden, unterschätzenden oder schlicht völlig falsch einschätzenden Menschen: pandemischer Selbstbetrug als soziales Fundament.

Ausweglose Erstarrung

Rowling legt die moderne (britische) Gesellschaft unter das Vergrößerungsglas; zum Vorschein kommt eine großkoalitionär erstarrte, sich selbst befriedigende (oder auch quälende) Sozietät, in der aktive Verantwortlichkeit eitler Nabelschau gewichen ist. Eine Tragikomödie solle es sein: Vor allem aufgrund des Schlusses blieb in meiner Wahrnehmung die Tragik deutlich im Vordergrund. Auch weil es keinerlei Katharsis, keine Lösung, keinen Ausweg gibt. Offener Widerstand ist ebenso zweck- und ergebnislos wie der Versuch, sich der Gemeinschaft zu entziehen. Es werden wohl noch viele Unschuldige, falsch Eingeschätzte, Vorverurteilte zu leiden haben, bis die Nabelschau ein Ende hat und die Ersten beginnen, den Schleier der Selbstlüge zu lüften.

Nein, es ist nicht einfach, dieses Buch zu mögen: Sein Realismus schmerzt zutiefst, und beide großen ideologischen Lager bekommen ihr Fett weg. Die rechte Hälfte wird bloßgelegt, die linke desillusioniert. Wir alle sind nur ganz gewöhnliche Menschen. Hier, um unseren Platz zu finden – uns selbst zu finden – und Verantwortung zu übernehmen, für uns und andere. In diesen Spiegel zu blicken ist nicht einfach, aber unerlässlich und lohnend. Wie das Lesen dieses Buches, auch wenn es nicht der ganz große Wurf geworden ist.

J.K. Rowling: Ein plötzlicher Todesfall. Carlsen, Hamburg 2012. 575 S., EUR 25,60 bei amazon kaufen
Ein plötzlicher Todesfall – Kindle-E-Book-Edition EUR 19,99

J.K. Rowling: The Casual Vacancy. Little, Brown and Company, London 2012. 504 p., EUR 22,50 bei amazon kaufen
The Casual Vacancy – Kindle E-Book-Edition EUR 15,99

Nachbemerkung: Ich habe das Buch im Original gelesen und die Übersetzung lediglich zum schnelleren Verständnis schwieriger Passagen hinzugezogen. Dem Vernehmen nach soll die Übersetzung in einem fensterlosen Raum in London in extrem kurzer Zeit (kolportiert werden unfassbare zwei Wochen) von zwei Übersetzerinnen durchgepeitscht worden sein. Jedenfalls fehlt ihr die Liebe zum Detail, was angesichts der Umstände natürlich verständlich, aber nichtsdestotrotz sehr bedauerlich ist. Ein Beispiel: Samanthas Laden für übergroße BHs heißt „Over the Shoulder Boulder Holder“; für mich der witzigste Einfall des gesamten Buches, den ich, nach einigem Überlegen, mit „Gerüste für robuste Brüste“ wiedergegeben hätte. Und nicht stinkfade als „Busenwunder“. Der danach beschriebene Lachanfall von Sams Schwiegervater wirkt in der Übersetzung einfach nur peinlich.
Sehr oft hatte ich den Eindruck, dass der von Rowling beabsichtigte Tonfall verfehlt wurde. So etwa in einer Passage, in der von hormongetriebenen, vor Geilheit sabbernden Teenagern als „hard-ons“ die Rede ist – was sich als „Dauererigierte“ oder härter als „Schwanzgesteuerte“ übertragen ließe, wohl kaum aber als „geile Lümmel“.
Schließlich bleibt das Slangproblem – auch Figuren in Harry Potter wurde immer mal wieder ein deftiger Dialekt in den Mund gelegt, umso mehr ist dies in The Casual Vacancy der Fall. Davon bleibt, erkennbarem Bemühen zum Trotz, so gut wie nichts übrig.
Die Leserschaft scheint es aber nicht gestört zu haben: Die deutsche Fassung erzielt noch den besten amazon-Leser-Wert: 3,4 (UK 3,2, US 3,0).

91lTMYXTSkL._SX342_Nachbemerkung 2: Seit Ende 2015 ist die als dreiteilige BBC-Miniserie ins TV gebrachte Verfilmung von The Casual Vacancy erhältlich. Ich habe sie nicht gesehen, bei Amazon kommt sie jedenfalls deutlich besser an als die Buchvorlage.

Autor: Helmuth Santler

31. Mai 2016 um 14:07

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