Textmaker Helmuth Santler

Der Textmaker – und die Botschaft kommt an

Von Schuld getrieben

Ein Mädchen auf der Flucht vor einem namenlosen Grauen findet Unterschlupf in einer verlassenen Hütte. Jemand stellt Katzenfutter hin und „sie leckte das Fett vom Porzellanrand, wie es eine Katze getan hätte, bevor sie das Schälchen zurückbrachte“.

Die Selbstverständlichkeit, mit der die 14-jährige Marie sich katzenhaft durchfüttert, versetzt unmittelbar in die spezielle Atmosphäre des Romans: Taten und Worte sind märchenhaft – schlicht, verträumt, grausam –, die Figuren drastisch und holzschnittartig und gleichviel Archetypen wie menschliche Charaktere. Die äußere Handlung ist mehr Vehikel für die gebührend verworrene Innenschau als logisch-stringente Erzählung. Zahlreiche Referenzen auf Grimm’sche Märchen und lokale Sagen – der Teufel ist aus Böhmen, und Böhmen ist nah – verstärken den märchenhaft-düsteren Grundton und verankern das Geschehen weiter in einer eigentümlichen Zwischenwelt, in der die „Eisen-Berta“ und „Rapunzel mit dem goldenen Haar“ neben „Feuerwehrfest“, „Bahnhof“ und „naturtrübem Apfelsaft“ ihren Platz haben.

Bald wird klar, dass das namenlose Grauen, vor dem Marie flüchtet, durchaus einen Namen hat: Er lautet Schuld. Unbewältigbare, erdrückende, alpträumende Schuld. Marie hat etwas Schlimmes getan, etwas Unverzeihliches, und sah keinen anderen Weg: Sie „rannte, rannte, rannte“. Was genau sich ereignet hat, erfahren wir nicht, erst das zarte Hoffnung weckende Ende bringt ein wenig Licht in die Sache. Doch um die „Sache“ geht es eben nicht: Wir sind Miterlebende von Maries innerem Kampf, ihrem verzweifelten Ringen um eine andere Möglichkeit als der einzigen, die es gibt: sich seinen Dämonen zu stellen.

„Es war einmal ein Mädchen, das zwischen Bücherbergen aufwuchs“, ist über die junge Linzer Autorin (Jahrgang 1980) zu erfahren. Von „Welten in ihrem Kopf“ ist die Rede. Diese biografischen Anmerkungen machen deutlich, dass Barbara Schinko nicht gewillt ist, die Dimensionen fein säuberlich zu trennen, gar zu schubladisieren, vermengen sich doch alle Wirklichkeiten, die äußeren, die inneren, die traumhaften und die traumatischen, zu einem Ganzen, dem analytisch und diskursiv nicht beizukommen ist. Dem von außen nicht beizukommen ist.

Der 2016 mit dem österreichischen und dem Kinder- und Jugendbuchpreis der Stadt Wien ausgezeichnete ebenso schmale wie gewichtige Roman wählt deshalb den Weg nach innen und macht uns zu Teilhabern von Maries Emotionen, ihren Ängsten, ihrer Wut, ihrem Selbsthass – Schneeflocken im Sommer; ihrem winzig kleinen Flämmchen der Hoffnung auf Erlösung. Alles andere als jugendbuchtypisches Schnelllesefutter, vielmehr ein Text, dem man sich widmet, mit Muße und Aufmerksamkeit und mithin jenen Qualitäten, die unserer Welt abhandengekommen scheinen. Allein dafür gebührt eine Leseempfehlung.

Barbara Schinko, „Schneeflockensommer“. € 14,95 / 156 S. Tyrolia-Verlag, Innsbruck 2015

Im Standard, 8. 4. 2017

Autor: Helmuth Santler

18. Apr 2017 um 15:58

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