Textmaker Helmuth Santler

Der Textmaker – und die Botschaft kommt an

Da. So seid ihr.

Entmenschlichte Effizienz, Vermarktung von Selbstmord, emotionales Vakuum: Juli Zehs beklemmende Dystopie ist von beängstigender Glaubwürdigkeit und Aktualität. Ein Schimmer der Hoffnung bleibt.

„Es gibt tatsächlich immer noch Menschen, die so tun, als könnte man dieser durchgedrehten Welt mit Haltung begegnen.“

Juli Zeh, aus deren jüngstem Wurf „Leere Herzen“ dieses Zitat stammt, muss es wissen. Nicht nur, weil sie es ist, die diesen desillusionierten Zynismus ihrer Heldin Britta in den Mund legt, sondern weil die glühende Demokratin Zeh selbst eine dieser Unverbesserlichen ist. Denn die zeitnahe Dystopie im Gewand eines Thrillers erhebt die längste Zeit das entmenschlichende Denken – Stichwort Human Resources, der Mensch als Rohstoff – auf radikal zu Ende gedachte Weise zum Geschäftsmodell: durch die Vermarktung von Selbstmördern. Nur um die ganze Verantwortung für die Bereinigung einer Situation, in der ein solches Geschäftsmodell nur logisch erscheint, letzten Endes wieder jenen überzustülpen, die in einer Demokratie entscheiden (sollten): den Wählerinnen und Wählern.

Seite um Seite lesen wir von demokratisch legitimierter gutmenschlicher Quasi-Diktatur, von „Effizienzpaketen“, die in ihrer Kleingeistigkeit und Kleinbürgerlichkeit jegliche größere positive Vision vermissen lassen und Bildungselitarismus und Fremdenfeindlichkeit unter dem Deckmantel der Rechtschaffenheit zu Staatsprinzipien erheben. Eingestreut sind schmerzhafte politische Prognosen: Europas Rückfall in nationalistischen Provinzialismus; eine Allianz des Größenwahns, Trump und Putin, beendet den Syrienkonflikt; Angela Merkel verschwindet von der Bildfläche. Letzteres macht nach den gescheiterten Jamaika-Koalitions-Verhandlungen und der in die Krise geratenen Bundeskanzlerin deutlich, wie erschreckend aktuell und am Puls der Zeit die Autorin ist.

Thriller als Vehikel

Spannend und sprachlich brillant entwickelt sie die Thrillerhandlung, die doch vor allem Vehikel ist für den Entwurf eines Gesellschaftsbildes, in dem das, was aus dem Brecht’schen Schoß gekrochen kam, sich nicht länger versteckt, zu verstecken braucht. Es wurde willkommen geheißen, akzeptiert, belobigt – zur Normalität. Jüngst konstatierte der Germanist Rudolf Muhr, der öffentliche Diskurs nähere sich sprachlich den 1930er-Jahren an. Ein „Heimatschutzministerium“ stehe im Raum, und das, wovor die Heimat geschützt werden müsse, sei z.B. die „Überfremdung“, am einfachsten kommunizierbar durch „Unmenschlichmachung“ bestimmter Gruppen.

Die Protagonistin Britta weiß das, hat den Glauben auf eine bessere Zukunft längst aufgegeben. Doch auch ihr emotionsloses Kalkül, ihre zynische Verachtung sind ein Weltbild: Es wurde geschaffen, es ist Illusion. Als es bis auf seine Grundfesten erschüttert wird, als es für Britta plötzlich persönlich wird, muss sie ihr Denkgebäude infrage stellen. Ihre Lösung stellt das Wahlvolk auf die ultimative Nagelprobe. Womit Juli Zeh ihren jäh aufflammenden Hoffnungsschimmer nährt, bleibt ein Rätsel. Doch nehmen wir das winzige Licht am Ende eines langen, dunklen Tunnels, am Ende einer beklemmenden Reise durch politische Finsternis und emotionales Vakuum, mit Dankbarkeit entgegen. Wie wenig Grund es dafür gibt, wird uns zuvor in erschütternder Deutlichkeit vor Augen geführt.

Juli Zeh, „Leere Herzen“. € 20,60 / 352 S. Luchterhand-Literaturverlag, München 2017

Autor: Helmuth Santler

23. Nov 2017 um 15:37

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