Textmaker Helmuth Santler

Der Textmaker – und die Botschaft kommt an

Prinzip Hoffnung: die Logik des Überlebens

Ein Flüchtlingskind und die Büchse der Pandora, ein Glücksbuch für alle Kinder dieser Welt, 13 Jugendliche, die etwas bewegen und eine radikale Streitschrift gegen eine „kannibalische Weltordnung“: vier Wege zu einer gerechteren Zukunft.

Die Hoffnung stirbt zuletzt, heißt es, und das mit gutem Grund: Mensch kann sich immer dafür entscheiden, unabhängig von allen Umständen, und trifft damit die logische Wahl. Wer aufgibt, hat verloren. Wer auf ein gutes Ende hofft und daran glaubt, bewahrt sich Motivation und Antrieb und damit alle Chancen.

Im Fall von Hope: Es gibt kein zurück. Du kommst an. Oder du stirbst stehen diese gleichwohl von Anfang an denkbar schlecht. Für Hope, das somalische Flüchtlingskind, genau der Grund, die Hoffnung niemals aufzugeben – ist sie doch das einzige, das bleibt. Hoffnung ist es auch, die das Kind dazu bringt, sich auf Mathis einzulassen. Der 19-jährige weiße Kanadier träumt von einer Karriere als Weltenbummler, Fotograf und Reporter. Macht sich viele Gedanken wegen des Fluchtgrundes Nr. 1 weltweit, der Klimakrise. Will einen Menschen auf dem Trail der Verzweiflung von Afrika über Brasilien, halb Latein- und ganz Mittelamerika bis ins gelobte Land USA begleiten. Um selbst zu sehen, zu spüren, zu begreifen – und der Welt aus erster Hand berichten zu können. Und hat absolut keine Ahnung, worauf er sich da einlässt.

Erschreckend

Was folgt sind 500 erschütternde, deprimierende Seiten, die einen gleichwohl nicht aus ihren Fängen lassen, so gut, so packend, so inhaltsreich und faszinierend sind sie gemacht. Die Flucht liefert den Handlungsrahmen für eine Kette aus Reportagen, ergänzt um Fact Sheets, die das fiktive Geschehen Station für Station in einen schonungslos realen Kontext stellen. Dürren, Hunger, Ozeanversauerung, Wetterextreme, Regenwaldvernichtung, Drogenkartelle, Völkermord, Diktaturen, Monokulturen, Extremismus, Pestizideinsatz, Artensterben – die Büchse der Pandora ist schon lange geöffnet, und Peer Martin scheint es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, jedes einzelne Böse, jedes einzelne Unglück hervorzuholen und uns unübersehbar vor Augen zu halten. Zusammen ergibt sich das Bild einer kaputt geschlagenen Welt – angefüllt mit Leben, Liebe und vollkommen irrsinniger und deshalb umso mehr unerlässlichen Hoffnung.

Hope wird mit einer Altersempfehlung ab 16 gerade noch als Jugendliteratur eingeordnet, ist aber ebenso wie Peer Martins anderes großartiges Buch, das den Themenkreis Flucht/Migration und (in diesem Fall besonders) Integration berührt, Sommer unter schwarzen Flügeln, definitiv All-age-(Pflicht)lektüre. Solange die Menschheit sich nicht ernsthaft aus dem Untergangsstrudel befreit, in den sie sich geritten hat, solange gilt nicht nur für den Holocaust und all die anderen historischen Ultraverbrechen: niemals vergessen. Sondern auch für das, was hier und jetzt geschieht. „Niemals vergessen“ kann nur auf eine Weise geschehen: hinsehen. Allen Schmerzen zum Trotz und bis zum Schluss: „No more fact sheets. Only hope.“

Beglückend

Aber alles hat seine Grenzen: Nach einer solchen Dosis bitterer Medizin brauchen wir jetzt „ein Glücksbuch für alle Kinder der Welt“, wie auf dem Buchdeckel von Ein Indianer wie du und ich zu lesen ist. Da sprießen die Erwartungen, wenngleich Klappentexte naturgemäß (hoch-)lobend sind, wie der Skeptiker sogleich anmerkt. Doch der hat alsbald Pause: Die kindlich reine Freude, mit der Boaz seine neue Mitschülerin Aisha, die „Indianerin“, in sein Herz schließt, obwohl er kaum ein Wort mit ihr wechseln kann, ist von so allumarmender Wärme und grenzenloser Offenheit, dass den ganzen kalten Zynikern der Balkanrouten-Wach-und-Schließgesellschaft einfach die Luft wegbleibt. Die aufgeweckte, wunderbar kindgerechte Sprache scheint direkt aus den Gedanken des Achtjährigen zu fließen, wir fühlen wie er alles ungefiltert, von herzstolpernder Begeisterung bis gliederstarrender Angst. Die Botschaft ist ganz einfach: Wir sind füreinander da, dann wird alles gut. Dass Aisha gar keine Indianerin ist, sondern aus einem Land namens Syrien flüchten musste? Ganz egal. Boaz braucht Aisha und Aisha braucht ihn. Doch dieses Glück ist in Gefahr und der Junge muss darum kämpfen …

Liebevoll und stimmig illustriert und als ineinander verwobenes Text-Bild-Gesamtkunstwerk gesetzt, erzählt dieses Büchlein eine zum Steinerweichen rührende Geschichte, die dabei das Kunststück zuwege bringt, immer wieder augenzwinkernd, aber niemals kitschig zu sein. „Ein Glücksbuch für alle Kinder der Welt?“ Und ob! Ein Glücksfall von einem Glücksbuch, ein Hoffnungsbuch, ein Haltungsbuch, und ja, für alle Kinder der Welt. Fühlt euch ruhig angesprochen.

Ermutigend

Ein paar Lebensjahre später und in der nicht selten unbarmherzigen Realität angesiedelt sind die Stories for Future. Die zentrale Botschaft ist freilich dieselbe: Junge Menschen nehmen ihr Schicksal in die Hand und verändern die Welt. Die Autorin, die italienische Journalistin Viviana Mazza, berichtete als eine der ersten im Westen über Malala Yousafzai, ihres Zeichens seit 2014 jüngste Trägerin des Friedensnobelpreises für ihren Einsatz für das Recht auf (Mädchen-)Bildung. Mazzas 13 Storys über außergewöhnliche Jugendliche, die sich gegen die Waffenlobby engagieren (Emma González, USA), gegen Zwangsheirat im Kindesalter rebellieren (Nojoud Ali, Jemen), ihr Schicksal als Opfer eines Säureattentats meistern (Reshma Qureshi, Indien) oder zu Märtyrern und Symbolfiguren für den Wahnsinn des Krieges werden (Hamza Ali Al-Khatib, Syrien), sind sämtlich Glanzstücke engagierten literarischen Journalismus, ergänzt um Kästen mit dem realpolitischen Kontext zur jeweiligen Story und einer Mini-Landeskunde. Mazza agiert als Anwältin ihrer Subjekte, verfällt aber nie in Distanzlosigkeit oder gar Verherrlichung. Schnörkellos und wohlgesetzt sind ihre Anteil nehmenden Sätze, die sie zu Reportagen von großer Gegenwärtigkeit aneinanderreiht. Ihre Anteilnahme überträgt sich beim Lesen, die Storys sind berührend, erschütternd, aufrüttelnd – und alle machen sie Mut, sich der eigenen Kraft zu besinnen, sich zur Wehr zu setzen und für die eigene Zukunft, für Rechte und Träume zu kämpfen.

Radikal

Die Hoffnung, dass die Jugend seinen lebenslangen Kampf weiterführt, treibt auch den streitbaren Schweizer Soziologen Jean Ziegler in dem schmalen Band Was ist so schlimm am Kapitalismus? Antworten auf die Fragen meiner Enkelin an. Einmal mehr prangert er darin die ewige Gier nach Geld und Macht, das einseitige und rücksichtslose Profitdenken als Grundübel der Menschheit an – und damit als eigentliche Ursache für Umweltzerstörung, Hunger, Gewalt und Kriege und dem aus all dem notwendig erwachsenden Zwang zu Massenflucht und -migration.

Er tut dies mit radikaler Eloquenz: „Das kapitalistische System lässt sich nicht schrittweise und friedlich reformieren. Wir müssen den Oligarchen die Arme brechen, ihre Macht zerschlagen.“ Geht es doch gegen eine „kannibalische Weltordnung“, gegen ein System, das Tag für Tag tausende Kinder an Hunger, Dreck und mangelnder medizinischer Versorgung krepieren lässt. Das die Ungleichheit ins Absurde übersteigert, den Reichen gibt und von den Armen nimmt: „Die Menschen in den armen Ländern schuften sich zu Tode, um die Entwicklung der reichen Länder zu finanzieren.“ Wichtigstes Herrschaftsinstrument sind schon lange nicht mehr Maschinengewehre, sondern der Schuldendienst.

Ziegler bekämpft den Kapitalismus seit mehr als 65(!) Jahren, weshalb ihm gelegentliches Abdriften in Resignation nachzusehen ist; nun, mit 86, muss er das Feuer weitergeben. Und hofft dafür auf die Jugend, sind doch alle bisherigen Bemühungen im Ansatz gescheitert: „Tatsächlich glaube ich, dass niemand im Westen die Welt wirklich so zu sehen wagt, wie sie ist.“ Oder überhaupt die Möglichkeit hat, denn natürlich sind auch die Medien fest in der Hand des Großkapitals: „Wie blökende Schafe gehorchen die Schweizer Bürgerinnen und Bürger den Diktaten ihrer Oligarchen“, erklärt sich Ziegler Abstimmungen „gegen die Einführung eines Mindestlohns, gegen eine Begrenzung der Managergehälter, gegen eine staatliche Krankenversicherung, gegen eine zusätzliche Urlaubswoche für alle, gegen eine Rentenerhöhung …“

Sein fiktiver Dialog mit einer fiktiven Enkelin gelingt mehrheitlich in anspruchsvoller jugendgerechter Sprache, mitunter zitiert Ziegler jedoch auch Quellen, die für ein gegenwärtiges junges Publikum wohl unverständlich sind. Die Botschaft selbst bleibt davon unberührt: so knüppelhart serviert kann sie gar nicht missverstanden werden.

Erschreckend, beglückend, ermutigend, radikal: vier hoffnungsvolle Ansätze, der einen Welt, in der wir leben, zu einer gerechteren Zukunft zu verhelfen.

Peer Martin: „Es gibt kein zurück. Du kommst an. Oder du stirbst“. € 20,60 / 544 S. Dressler-Verlag, Hamburg 2019. Ab 16

Erna Sassen: „Ein Indianer wie du und ich“. € 16,40 / 125 S. Freies Geistesleben, Stuttgart 2019. Ab 9

Viviana Mazza: „Stories for Future. 13 Jugendliche, die etwas bewegen“. € 11,30 / 224 S. dtv, München 2020. Ab 13

Jean Ziegler: „Was ist so schlimm am Kapitalismus? Antworten auf die Fragen meiner Enkelin“. € 15,50 / 128 S. C.-Bertelsmann-Verlag, München 2019. Ab 14 (meine Einschätzung, der Verlag gibt keine Altersempfehlung)

Anmerkung: Wer diese Amazon-Kauflinks nutzt, hilft mir persönlich; aber natürlich auch Amazon. Die Alternative: http://www.buecher.at/buchhandlungen-mit-onlineshops/

Im Standard am 14.3.2020

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