Textmaker Helmuth Santler

Der Textmaker – und die Botschaft kommt an

Ein Schrei um Verständnis

Cover von Fern Brady, Strong Female CharacterDie schottische Comedienne Fern Brady wurde erst mit 34 Jahren als autistisch diagnostiziert. Ihre Autobiografie Strong Female Character eröffnet uns einen schmerzhaft authentischen Blick auf ihr Leben zwischen Meltdowns, Sexismus, Chauvinismus und der Unmöglichkeit, „normal“ zu sein.

Helmuth Santler

„Zum ersten Mal versuchte ich mir vorzustellen, wie es wäre, ein Baby zu haben, das weint, wenn man es streichelt, ein Kleinkind, das sich an den Armen kratzt, wenn man es berührt.“ Zum Ende ihrer Autobiografie, einer schonungslosen Selbstentblößung, erahnt die schottische Comedienne Fern Brady, wie ihre Mutter sie in ihren ersten Lebensjahren erlebt haben musste. Möglich wird dieser Durchbruch auch dank einer Diagnose, die kurz zuvor, im Alter von 34 Jahren, endlich ihrem neurodivergenten Verhalten, vulgo „Wahnsinn“, einen Namen gab: Autismus.

Im Schottland der 80er und 90er Jahre in einer durchschnittlichen Mittelklassefamilie in einem langweiligen Kleinstädtchen war einfach niemand früher auf den Gedanken gekommen, eine Erklärung für Ferns Seltsamkeiten zu suchen, die so oft extrem abweisend wirkten; sie selbst äußerte im jungen Erwachsenenalter diesen Verdacht, doch die Ärzte wiesen ihn brüsk zurück: Da sie Augenkontakt halte und einen Freund habe, erfülle sie die Kriterien nicht. Ohne Diagnose kam sie auch nie in den Genuss irgendwelcher an ihre speziellen Bedürfnisse angepassten Angebote, konnte sich keine Techniken aneignen, um ihre brutalen Meltdowns in den Griff zu bekommen. Ein Geräusch, plötzlich und laut, grelles Licht, Stress, Veränderung, etwas läuft nicht nach Plan, die Kosmetikerin schneidet die Fingernägel zu kurz, der Stoff der Kleidung kratzt auf der Haut – zahllos sind die Ursachen, die diese humanen Kernschmelzen auslösen können, bei denen Fern ihre Möbel zu Kleinholz verarbeitet, auf etwas oder sogar jemanden einschlägt, Schreikrämpfe hat, verstummt, sich selbst verletzt, sich in der Echokammer ihre rotierenden Gedanken verfängt.

Ein „normales“ Sozialleben ist ihr nicht möglich: Zwischentöne erfasst sie nicht, nimmt stattdessen jedes Wort für bare Münze, und wird ebenso oft als naives Dummchen zum Gespött wie sie andere mit ihren Aussagen vor den Kopf stößt: Es gibt nur schwarz oder weiß, und sie ist selbst ihren eigenen Gefühlen gegenüber so gut wie blind und schon gar nicht in der Lage, jene von anderen einzuordnen oder die Wirkung ihrer stets unbedingt wahrheitsgetreuen, sprich vollkommen taktlosen Worte auf ihre Mitmenschen abzuschätzen.

Auch wenn sie nach und nach ein immer feineres Radar für Unaufrichtigkeit entwickelt, kann sie doch ihren Ekel davor nie verbergen, was u.a. dazu führt, dass sie es in keinem Job mehr als ein paar Wochen aushält. Dann entdeckt sie aber ein berufliches Umfeld, das sehr tolerant gegenüber Außenseitern ist und in dem keine Neonbeleuchtung ihr überempfindsames Sensorium überlädt, einen Job, von dem man praktisch nicht gefeuert werden kann und der Nacht für Nacht die immergleichen Routineabläufe mit sich bringt, was auch die stereotypen Kundengespräche fernab jeglicher „sozialer Stolperfallen“ umfasst: Stripperin.

Damit und weil nach Jahren doch endlich die gesamte ihr vorenthaltene staatliche Unterstützung ausbezahlt wird, schafft die für Sprachen Inselbegabte es durch ihr Studium, nähert sich aber schon währenddessen ihrer wahren Berufung an: Stand-up-Comedienne.

Als solche hat sich die 39-Jährige mittlerweile zur Solokünstlerin hochgearbeitet und ist in ihren Shows so rückhalt- und rücksichtslos direkt, so rau im Ton, so knochentrocken schwarzhumorig, wie es auch ihre Darlegungen in Strong Female Character sind. Jahrelang hatte sie „maskiert“: im sozialen Umgang alles daran gesetzt, ihren Autismus hinter aufgesetztem, den neurotypischen Menschen abgeschautem Verhalten zu verstecken. Bis ihr aufging, dass sie umso autistischer wirkte, je mehr sie das zu verleugnen versuchte.

Das Buch legt nun ein schmerzhaft authentisches Zeugnis ab: Das ist, so ist Fern Brady. Es ist ein Akt der Befreiung, ein Schrei um Verständnis, ein Aufruf, die Wahrnehmung für Neurodiversität in anderen zu schulen, ein Tor in die Welt von Autist:innen. „Ich habe euch alles erzählt – ich habe euch nichts erspart, weil ich weiß, wenn ich etwas zurück- oder geheimhalte, würde ich ungewollt die Botschaft vermitteln, dass Autismus mit Scham verbunden ist … Alles, was ich tun kann, ist, weiter darüber zu sprechen. In der Hoffnung, dass ihr mit diesem Wissen die Welt des nächsten autistischen oder unangepassten Mädchens, auf das ihr trefft, besser macht.“

Ein starker, ein unangenehmer, ein wichtiger, Erkenntnis bringender Text.

Fern Brady, „Strong Female Character. Mein Leben zwischen Sexismus und Autismus“. Übersetzung aus dem Englischen von Doreen Reeck. EUR 24,70 / 320 S. Pola-Verlag, Köln 2024

Im Standard, 10.5.2025

Autor: Helmuth Santler

13. Mai 2025 um 16:32

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