Textmaker Helmuth Santler

Der Textmaker – und die Botschaft kommt an

Winterreise

nothomb, winterreiseZoile wird einen Terroranschlag begehen, der seit 9/11 vorherrschenden Grundregel für Schreckenstaten folgend mit einem Flugzeug, aber er leugnet vehement ab, ein Terrorist zu sein. Vielmehr begeht er die Tat aus verzweifelter, unerwiderter Liebe.
Der Auftakt ist irritierend, aber nichts anderes darf vom neuesten Werk der frankobelgischen Autorin erwartet werden. Was nun folgt ist jedoch nichts weniger als eine überaus herbe Enttäuschung.
Denn anstatt ihre wie immer radikalpoetische, ätzend sozialkritische Grundannahme in gewohnter Eloquenz zwingend zu argumentieren (unnachahmlich z.B. in ihrem Buch Der Professor vorexerziert: Die Lösung für schlechte Umgangsformen kann nur in der Ermordung des Flegels bestehen…), erfahren wir in der Folge nur von Zoiles Begehren nach Astrolabe, ohne es jemals nachfühlen zu können. Der Grund, warum die Liebe unerfüllt bleibt, ist Astrolabes Lebensaufgabe: die Betreuung einer geistig minderbemittelten, überaus hässlichen, zur Fettleibigkeit neigenden Frau, die ohne sie der Willkür des Daseins hilflos ausgeliefert wäre. Diese unerfreuliche Erscheinung namens Alienor ist – Schriftstellerin!
Sollte es sich dabei um ein Alter Ego Amélie Nothombs handeln, so ist es wohl die bitterste Form der Selbstironie, der ich jemals in die schwarze Fratze starrte. Allein: es funktioniert nicht. Die Figur ist schlicht vollkommen unglaubhaft. Und davon ausgehend auch sämtliche daraus abgeleiteten Taten und Verhaltensweisen bis zum Terroristen, der keiner sein will, aber gegen die selbst geschaffenen Tatsachen nicht anzuschreiben vermag.
Amelie Nothomb begeistert, verstört, vergrämt, entzückt, unterhält, überrascht, seziert, vernichtet – und das nicht selten alles auf einmal auf höchstens 150 Seiten. Dementsprechend löst sie mit den meisten ihrer Bücher Reaktionen vom ehrfürchtigen Kniefall bis zur Hasstirade aus. Dieses Mal hat sie mich auf dem falschen Fuß erwischt. Ja, ich habe dieses Buch als Zumutung der widerwärtigsten Art erlebt; dass eine derartige Wirkung von geschriebenem Wort ob ihrer bloßen Intensität bereits eine erstaunliche Leistung darstellt, ändert nichts an meiner Meinung: das bisher schlechteste Buch der Provokateurin.
Amélie Nothomb: Winterreise. Diogenes, Zürich 2011. Geb., 113 S.

Autor: Helmuth Santler

01. Mai 2011 um 12:58

Kategorie: Buch,Roman

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