Textmaker Helmuth Santler

Der Textmaker – und die Botschaft kommt an

Perfektion ist eine Krankheit

Fragt man Jakob, wie es ihm geht, bekommt man vermutlich keine Antwort. Denn zwischen einander jagenden Selbsthass-Parolen, die das Jakob-Niedermachen als einzig denkbare Lebensperspektive erscheinen lassen, und dem Heraufbeschwören von existenzbedrohenden Worst-Case-Szenarios bezüglich der Folgen einer … welcher … wie genau dargebrachten Äußerung bleibt kein Platz mehr in seinem Kopf, um tatsächlich den Mund zu öffnen, Worte zu formen und verständlich zu artikulieren.

Jakob hat Panikattacken. Was ihn für alle anderen, ganz besonders seine älteren Brüder, wie einen „Spasti“ wirken lässt, als den sie ihn auch behandeln. Beste Nahrung für Jakobs Überzeugung, dass das Leben einfach scheiße ist.
Lotte hingegen, die ist hinreißend schön, lächelt, dass die Steine schmelzen, ist ein Ass in der Schule und überhaupt einfach perfekt … und diese Traumgestalt fragt ihn, ausgerechnet ihn, ob er sie auf eine mehrtägige Wanderung samt Zeltübernachtung(!) begleiten möchte!? Kann nicht sein. Und doch brechen die beiden wenig später zu ihrem ganz persönlichen Roadmovie auf. Während dem Jakob klar wird, dass auch die perfekteste Lotti ganz schön seltsam sein kann, er sie natürlich trotzdem liebt wie verrückt und den Auftrag, sie zu beschützen, ernster nimmt als jemals irgendetwas zuvor. So ernst, dass manchmal selbst die Panik ausbleibt, weil sie keinen Raum in seinen Gedanken findet …

Annette Mierswas einfühlsamer Roman Liebe sich wer kann für Leser*innen ab zwölf Jahren macht deutlich, wie sehr der Dauerleistungsdruck in unserer Gesellschaft psychischen Problemen wie Angststörungen, Depression oder Burn-out Vorschub leistet. Dabei verliert der Text nie seine Leichtigkeit und positive Grundeinstellung und ist nebenher ein warmherziger Beitrag über Respekt und Toleranz gegenüber unterschiedlichen Lebensentwürfen.

Annette Mierswa, „Liebe sich wer kann“. € 7,20 / 240 S. Loewe-Verlag, Bindlach 2021

Im Standard, 4. Dezember 2021

Autor: Helmuth Santler

09. Dez 2021 um 23:50

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