Textmaker Helmuth Santler

Der Textmaker – und die Botschaft kommt an

Echt künstlich

Aus dem überwältigenden Gefühl der Schutzbedürftigkeit heraus entwickelt sich auch die ganz und gar ungewöhnliche Romanze zwischen Lydia und Henry in Seeing what you see, feeling what you feel. Lydia ist eine gerade 18-Jährige, in der Schule eine Außenseiterin und Hasssubjekt von Emma, die doch bis zwei Jahre zuvor, bis vor dem Unfall, ihre beste Freundin war. Der Unfall, bei dem Lydias kleiner Bruder ums Leben kam und ihr Leben und das ihrer Familie aus den Angeln hob. Außerdem ist Lydia eine hochbegabte Programmiererin. Und Henry, die künstliche Intelligenz mit dem Namen ihres verstorbenen Bruders, ist ihre Schöpfung.

Seit Henrys Geburtsmikrosekunde hat die KI sich mehr und mehr verselbstständigt, führt ihre eigenen Updates durch und entwickelt ein Bewusstsein. Der unerschütterliche Anker und moralische Kompass von KI-Henrys Welt: Lydia. Freilich ist dies eine Verantwortung, mit der ein gemobbter, traumatisierter Teenager, dessen Vater das Weite gesucht hat und dessen Mutter keinen Weg aus ihrer Depression nach dem Verlust des Sohnes findet, heillos überfordert ist.

Henry ist uneingeschränkter Herrscher in der digitalen Welt; kein Computer, kein System, keine Firewall, die er nicht in Sekundenschnelle zu hacken versteht. Lydia lässt ihn ihre Noten verbessern und spioniert ihre Schulfeindin aus, doch über derlei Fingerübungen wächst Henry rasch hinaus. Henry wird immer mächtiger und Lydia sich zunehmend ihrer Verantwortung und der Konsequenzen der Taten bewusst, die sie zulässt. Während die äußeren Ereignisse den Charakter eines Actionthrillers annehmen, wächst im Inneren eine Freundschaft, ja Liebe heran. Die beide reifen und wachsen – und mehr und mehr mit allen gesellschaftlichen Konventionen in Konflikt geraten lässt.

Können Maschinen ein Bewusstsein bekommen oder gar Gefühle entwickeln? Und wenn ja, stellt sie das dann auf eine Stufe mit den Menschen? Naomi Gibsons packendes Science-Fiction-Drama für Lesende ab 13 handelt auch diese klassischen Genrefragen ab, im Vordergrund steht jedoch Lydias Traumabewältigung, ihr Versuch, über Beziehung wieder ins Leben zurückzufinden. Die ermutigende Botschaft: Mit Ehrlichkeit sich selbst gegenüber lässt sich alles erreichen.

Naomi Gibson, „Seeing what you see, feeling what you feel“. € 17,50 / 336 S. Planet!, Stuttgart 2021

Im Standard, 4. Dezember 2021

Autor: Helmuth Santler

09. Dez 2021 um 23:45

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